Der Schriftsteller Marcel Beyer, der 2016 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wurde, vereinigt viele Fähigkeiten in seiner Person: Er ist nicht nur ein passionierter Dichter, Erzähler, Popmusik-Experte und DJ, sondern ebenso obsessiv auch ein akribischer Sprach- und Geschichts-Archäologe. 1965 in Tailfingen (Baden-Württemberg) geboren, wuchs Beyer in Neuss auf und war in den frühen 1990er Jahren die zentrale Figur der Kölner Lyrik-Szene. Seit 1996 lebt er in Dresden. In seinen Romanen „Flughunde“ (1995) und „Kaltenburg“ (2008) erzählte er von traumatischen Urszenen deutscher Geschichte in den Jahren 1933 bis 1945. In sein episches Gedicht über das große Sprachengenie Karl May, das in seinem Gedichtbuch „Graphit“ (2014) zu finden ist, hat er sein literarisches Credo eingeschmuggelt: „Ich / bin ein Mann, der sich in / alle Zeit verzweigt, ein Mann / der tief in Schützengräben / blickt und nichts vergessen kann ...“
Auch in seinem neuen Gedichtbuch „Dämonenräumdienst“ „verzweigt“ sich Beyer in viele historische Figuren, tastet fremde Wörter, Begriffe und Namen ab, die dann mit ihren Klangwerten und Konnotationen zum Resonanzraum seines Schreibens werden. Als Impulsgeber fungieren diesmal die Dämonen, die ursprünglich keine gruseligen Schreckgestalten sind, sondern mahnende Stimmen aus dem Geisterreich – und ständige Begleiter aller Dichterinnen und Dichter. Es geht aber nicht um die Beseitigung unerwünschter Geisterstimmen. In „Dämonenräumdienst“ werden große Künstlerinnen und Künstler wie Hildegard Knef, Rudolph Moshammer oder der englische Romantiker Samuel Taylor Coleridge wieder lebendig und wirbeln unerhörte Begebenheiten auf. Es scheint, als ob der poetische Spracharchäologe Marcel Beyer wie einst S. T. Coleridge Vokabellisten anlegt, um damit das Gedicht zu dynamisieren. Und so wimmelt es auch von bizarren Wörtern: „Ein Wort wie Sessel-Zumba. / Ein Wort wie Hooligan-Wissen. / Auch Eiweißmulke käme in Frage.“ (M. B.)
Auszeichnungen u. a.: Ernst-Willner-Preis (1991), Stipendium des Künstlerhauses Wiepersdorf (1995), Uwe-Johnson-Preis (1997), New York Stipendium des Deutschen Literaturfonds (1999), Heinrich-Böll-Preis (2001), Friedrich-Hölderlin-Preis (2003), Spycher: Literaturpreis Leuk (2004), Erich-Fried-Preis (2006), Joseph-Breitbach-Preis (2008), Stadtschreiber von Bergen-Enkheim (2012), Kleist-Preis, Oskar-Pastior-Preis (2014), Bremer Literaturpreis (2015), Düsseldorfer Literaturpreis, Georg-Büchner-Preis (2016), Lessing-Preis des Freistaates Sachsen, Kunstpreis der Landeshauptstadt Dresden (2019).
Veröffentlichungen (Auswahl):
– „Walkmännin. Gedichte 1988/ 1989“, Patio, Frankfurt a. M. 1990
– „Das Menschenfleisch“, Roman, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1991
– „Brauwolke“, Gedichte, Warnke, Berlin 1994
– „Flughunde“, Roman, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1995; Graphic Novel, zus. mit U. Lust, Suhrkamp, Berlin 2013
– „Falsches Futter“, Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1997
– „Spione“, Roman, DuMont, Köln 2000
– „Erdkunde“, Gedichte, DuMont, Köln 2002
– „Nonfiction“, Essays, DuMont, Köln 2003
– „Vergesst mich“, Erzählung, DuMont, Köln 2006
– „Kaltenburg“, Roman, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2009
– „Putins Briefkasten. Acht Recherchen“, Suhrkamp, Berlin 2012
– „Graphit“, Gedichte, Suhrkamp, Berlin 2014
– „Das blindgeweinte Jahrhundert. Bild und Ton“, Essays, Suhrkamp, Berlin 2017
– „Dämonenräumdienst“, Gedichte, Suhrkamp, Berlin, August 2020