Für den Dichter und Romancier Lutz Seiler ist Sprache ein Nahrungsmittel. Vielleicht sogar die Grundsubstanz seines Daseins. Aufgewachsen in der Gegend des Uranabbaus, gehören beißende Gerüche, schwerer Dunst, Brandqualm, süßliche Gase, fettige Wolken und Gestank, der die Schleimhäute zerfrisst, zu seinen frühen Eindrücken. Diese sinnlichen Erfahrungen lagern sich in seiner Sprache ab und werden Teil seiner Gedichte und Erzählungen, schlagen sich auf seine Essays und Romane nieder. Ein weiteres Reservoir ist die väterliche Garage und Werkstatt: Hier kommen Vergasernadeln, Schraubenschlüssel, Abstandsmesser und Zündkerzen ins Spiel. In jedem seiner Bücher lotet Lutz Seiler, 1963 im thüringischen Gera geboren, seine DDR-Kindheit aus, bringt ebenso andere literarische Traditionen, wie Wolfgang Hilbigs düstere Abraumhalden oder den „Sprechort seines Schreibens“, das Kieferngewölbe des Peter-Huchel-Hauses in Wilhelmshorst, das er seit vielen Jahren leitet, zum Schwingen.
In seinem neuen Roman „Stern 111“ werden Bezeichnungen für Geräte und Autos zu poetischen Echokammern: das DDR-Kofferradio Stern 111 und der nach einem Fiat-Modell gefertigte Shiguli. Sein Held Carl schlingert durch das Nachwende-Berlin und gehört schon bald zu einer Gruppe, die das undefinierte Terrain des Ostens auf ihre Weise zu beherrschen versucht. Vor allem aber kämpft Carl um ein poetisches Verhältnis zur Welt und darum, sie in Sprache zu fassen. Nach seiner mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Hiddensee-Robinsonade „Kruso“ legt Lutz Seiler mit „Stern 111“ seinen zweiten Roman vor, der im Frühjahr den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt. Eine Werkbank spielt auch dieses Mal eine wichtige Rolle. (M. A.)
Auszeichnungen u. a.: Kranichsteiner Literaturpreis (1999), Dresdner Lyrikpreis, Lyrikpreis Meran (2000), Anna Seghers-Preis (2002), Bremer Literaturpreis (2004), Preis der SWR-Bestenliste (2005), Ingeborg Bachmann-Preis (2007), Fontane-Preis (2010), Uwe-Johnson-Preis, Deutscher Buchpreis (2014), Marie-Luise-Kaschnitz-Literaturpreis (2015), Thüringer Literaturpreis (2017), Preis der Leipziger Buchmesse (2020).
Veröffentlichungen (Auswahl):
– „berührt / geführt“, Gedichte, zus. mit C. Schmidt, Oberbaum, Chemnitz 1995
– „Topol, Jachym: Das Hier kenn ich“, Nachdichtungen, Galrev, Berlin 1996
– „pech & blende“, Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2000
– „vierzig kilometer nacht“, Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2003
– „Sonntags dachte ich an Gott“, Aufsätze, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2004
– „Vor der Zeitrechnung“, Gedichte und eine Erzählung, CD, Parlando, Wien 2006
– „Turksib. Zwei Erzählungen“, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2008
– „Die Zeitwaage“, Erzählungen, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2009
– „im felderlatein“, Gedichte, Suhrkamp, Berlin 2010
– „Kruso“, Roman, Suhrkamp, Berlin 2014
– „Am Kap des guten Abends. Acht Bildgeschichten“, Insel, Berlin 2018
– „Stern 111“, Roman, Suhrkamp, Berlin 2020