Unsere früheste Empfindung von Poesie, unsere erste Begegnung mit magischen Wörtern verdanken wir fast immer den Liedern aus der Kindheit. Es sind Wiegenlieder oder auch Kirchenlieder, die eine Sehnsuchtslandschaft öffnen und in denen eine Verheißung der Paradiessprache aufblitzt. In den Gedichten von Dorothea Grünzweig, die 1952 in Korntal bei Stuttgart zur Welt kam und dort in einem protestantischen Pfarrhaus aufgewachsen ist, vernehmen wir das Echo dieser geistlichen Lieder. Und es sind manchmal Lieder, die in ihre jetzige Heimat weisen, nach Finnland, wo sie seit 1989 als „Bürgerin zweier Sprachwelten“ lebt. Nach ihrem Studium der Germanistik und Anglistik forschte sie an der Universität Oxford zu dem ihr geistesverwandten Dichter Gerard Manley Hopkins und war an der schottischen Universität Dundee tätig. Danach arbeitete sie als Lehrerin in Deutschland und in Helsinki, seit 1998 lebt sie als Dichterin und Übersetzerin in einem Dorf in Südfinnland. Dieses „wassertrunkene land der sprache“, so sagen es ihre Gedichte, ist ein Ort der Rettung, des Schutzes vor Verhängnis und Untergang. Ihr Vater war als verwundeter Soldat in ein Lazarett in Finnland gekommen, so offenbart es ein Gedicht ihres Bandes „Die Auflösung“ (2008). Die emphatische Aufrufung nordeuropäischer Landschaften, vor allem der finnischen Waldestiefen und Lichtverhältnisse, bilden ein zentrales Element von Grünzweigs Dichtung – wie auch die Beschwörung der Oralität und Liedhaftigkeit der Poesie. Auch in ihrem soeben erschienenen Gedichtband „Plötzlich alles da“ werden Wort- und Tonmaterial aus der deutschen und der finnischen Sprache, zarte Assonanzen, Liedzeilen und Stabreime kunstvoll zu freirhythmischen Gedichten verbunden. (M. B.)
Auszeichnungen u. a.: Lyrikpreis der Stiftung Niedersachsen (1997), Heinrich-Heine-Stipendium Lüneburg (2000), Christian-Wagner-Preis (2004), Jahresstipendium des Landes Baden-Württemberg (2008), Anke-Bennholdt-Thomsen Lyrikpreis (2010), Kurt Sigel-Lyrikpreis (2018).
Veröffentlichungen (Auswahl):
– „Mittsommerschnitt“, Gedichte, Wallstein, Göttingen 1996
– „Vom Eisgebreit“, Gedichte, Wallstein, Göttingen 2000
– „Glasstimmen lasinäänet“, Gedichte, Wallstein, Göttingen 2004
– „Die Holde der Sprache“, Essay, Keicher, Warmbronn 2004
– „Die Auflösung“, Gedichte, Wallstein, Göttingen 2008
– „Sonnenorgeln. Ausgewählte Gedichte und ein Werkstatt-Essay“, Wallstein, Göttingen 2011
– „Kaamos Kosmos“, Gedichte, Wallstein, Göttingen 2014
– „Plötzlich alles da“, Gedichte, Wallstein, Göttingen, August 2020